
I don’t wanna holiday in the sun…Warum reisen Menschen an Orte des Schreckens? Dark Tourism
- Posted by Alice Rombach
- On 6. September 2022
Re-Post: Erschienen in der Zeitschrift iz3w am 22.08.2022
Unter den Begriff Dark Tourism fallen verschiedenste Reiseziele und –aktivitäten von Jack the Ripper-Touren über verlassene Städte bis Genozid-Museen. Dank medialer Verbreitung werden sie immer beliebter. Was motiviert Menschen, sich im Urlaub mit Grauen zu beschäftigen?
Orte, an denen Gräueltaten verübt wurden – mittelalterliche Folterkeller und ehemalige Gefängnisse, Geisterstädte, die nach Katastrophen übrigbleiben – Räume, die für Zerstörung, Leid und Tod stehen, werden immer mehr zum Magnet für Tourist*innen. Die Serie „Tschernobyl“ erzählte beispielsweise die nukleare Katastrophe von 1986 nach und trug zur Popularisierung der Sperrzone um den Reaktor als Reiseziel bei. Während diese 2014 von etwa 8.000 Menschen besucht wurde, kamen 2019 schon rund 124.000 Tourist*innen.
Dark Potpourri
Mittlerweile hat Dark Tourism sogar eine ‚eigene‘ Netflixserie: In „Dark Tourist“ reist der neuseeländische Journalist David Farrier unter anderem in ein Haus in den USA, in dem gefoltert wurde und ins radioaktive Umland von Fukushima. In der kolumbianischen Stadt Medellin traf er sich mit Jhon Jairo Velásquez. Dieser hatte im Auftrag von Pablo Escobar, der in den 1970er und 1980er Jahren in Medellin ein Drogenimperium aufgebaut hatte, über 200 Menschen getötet. Velásquez war eine Zeit lang eine wichtige Figur in diesem neuen Tourismussektor geworden: Gegen Bezahlung ließ er sich etwa mit Tourist*innen fotografieren, bis er 2018 erneut verhaftet wurde. Medellin hat sich zu einem Hotspot des ‚gruseligen Tourismus‘ entwickelt. Während die meisten Einheimischen seinen Namen nicht einmal mehr aussprechen wollen, boomt der sogenannte Narcos-Tourismus rund um Escobar. In Medellin werden inzwischen unzählige Escobar-Touren angeboten, auf denen Tourist*innen verschiedene Stationen besuchen können, zum Beispiel eine Andachtsstätte, aber eben auch Escobars ehemalige Gefängnis-Residenz. Darunter sind auch Touren, auf denen Rollenspiele für Tourst*innen inszeniert werden – so geben beispielsweise als Escobar und seine Crew verkleidete Schauspieler*innen über Funk vermeintliche Morde in Auftrag, während Tourist*innen in deren Wagen mitfahren. Daneben versuchen aber auch Anbieter wie „Paisa Tours” mit Touren aufzuklären und mit der Verherrlichung und dem Heldentum aufräumen, das vielen der Escobar-Touren, wenn nicht explizit, dann doch oft implizit anhängt. Paisa Tours benennt das Leid und Angst der Bewohner*innen der Stadt und die Mechanismen wie junge Menschen in diesen Sog des schnellen Geldes gerieten, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Sie bietet darüber hinaus auch Touren an, die sich thematisch mit der Graffiti, Kaffee oder auch Medellin als Kunst- und Kultur-Stadt im Wandel beschäftigen.
Häufig vermischen sich in diesen explizit touristischen Angeboten historische Fakten und inszenierte Unterhaltung: Im Gefängnis Karosta in Riga, einem ehemaligen Militärgefängnis, in dem revolutionäre russische Matrosen, Wehrmachtsdeserteure und später Stalin-Opfer einsaßen, können sich Tourist*innen heute als Häftling abführen lassen, an die Wand gestellt werden oder eine ganze ‚extreme Nacht’ im Gefängnis verbringen. Beim Veranstalter Eco Alberto in der mexikanischen Stadt Ixmiquilpan in Hidalgo wird gar das Erleben eines illegalen Grenzübertritts von Mexiko in die Vereinigten Staaten als vierstündige Nachwanderung mit Fackel-Tour angeboten. Laut Berichten auf Tripadvisor wurden Tourist*innen im Rahmen dieser Tour von schauspielenden Tourguides tatsächlich verfolgt, angeschrien, überfallen, mit vorgehaltener Waffe ausgeraubt oder gar mit dem Tod bedroht.
Wer mit dem Reiseanbieter Young Pioneer Tours in den Urlaub fährt, spielt ebenfalls mit der Gefahr: Der Anbieter, der zu Beginn auf Reisen nach Nordkorea spezialisiert war, bezeichnet sich als „das weltweit führende Unternehmen für Abenteuertourismus und Dark Tourism“ und wirbt mit dem Slogan „destinations your mother would rather you stay away from”. So kann man in Syrien „die erste Tourist*in nach dem Krieg“ sein oder Silvester mit den Peschmerga im Irak feiern. Die geführte Reise in das international nicht anerkannte Somaliland wurde damit beworben, das gefährlichste Land der Welt zu erleben. Klarer als bei anderen Beispielen scheint hier nicht nur die touristische Suche nach dem Besonderen, sondern auch nach einer reellen (möglichen) Gefahr durch.
Grusel- …
Die Motive für alle diese Reisen sind aber natürlich so unterschiedlich wie die verschiedensten Ziele, die unter dem Begriff Dark Tourism gefasst werden. Selbstverständlich ist die Motivation, in London an einer Jack the Ripper-Tour teilzunehmen, eine andere, als in der Sperrzone von Fukushima seine Gesundheit tatsächlich aufs Spiel zu setzen. Grusel dient schon lange der Unterhaltung, sei es in Horrorfilmen, Geisterbahnen oder nun bei einigen Dark Tourism-Destinationen. Die Hauptmotivation für eine Reise an Orte der Massengewalt wird er jedoch selten sein. Diese Motive sind sehr unterschiedlich und individuell schwer zu fassen.
Manche Dark Tourism-Reisen führen an Orte, an denen die Tourist*innen dem Versprechen hinterher reisen, mehr über die Geschichte zu erfahren. Vermutlich auch mit der Hoffnung, etwas Diffuses am Ort des ehemaligen Geschehens zu spüren, vielleicht zu verstehen und zu erfassen. Das Motiv „ich war da“ und interessiere mich für die Geschichte der Orte, an die ich reise, spielt sicherlich auch eine Rolle. Bei manchen liegt der Ort des Leides oder der Gewalt auch quasi auf dem Weg, wird zu einer Station auf einer längeren Reise, die vornehmlich der Erholung oder dem Vergnügen dient. Es könnte eine Mischung aus Neugierde, Nervenkitzel und dem Bedürfnis nach Abenteuer sein, durchaus in Verbindung mit dem Gedenken an die Opfer und Grausamkeiten, ohne diese verleugnen oder beschädigen zu wollen. Dabei kann der Antrieb, mehr über die Historie wissen zu wollen und eine emotionale Beteiligung durch eine Identifikation mit den Grausamkeiten vor Ort auch eine Rolle spielen. Wenn ein Ort Aufmerksamkeit in den Medien erhalten hat, kann die Motivation Einzelner gesteigert werden, wissen zu wollen, wie die Realität hinter der medialen Darstellung eigentlich ist, wie es sich anfühlt, selbst dagewesen zu sein.
Von Orten der Erinnerung ist bekannt, dass manche der Reisenden sich moralisch verpflichtet fühlen, etwas zu hinterlassen wie Gästebucheinträge. Da sich die tatsächlichen Motive der Reisenden schwer erfassen lassen, wurde in einer der wenigen wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema versucht, aus Botschaften in Gästebüchern Schlüsse über die Motivation des Besuches zu ziehen. Viele Besucher*innen fühlten sich nach eigener Auskunft tief berührt, dachten über moralische Fragen, ihre Werte und ihr Handeln nach und erlebten die Orte als verbindend und sinngebend. Aufgrund der Außergewöhnlichkeit eines solchen Orts wird offenbar das gewohnte Denken und Empfinden durchbrochen und es gibt Raum für tiefe Erfahrungen.
…oder Lerneffekt?
Es gibt kaum Studien, die die Motive der Reisenden erfassen. Eine der wenigen ist die Abschlussarbeit der Wirtschaftspsychologin Katalina Ketschau.Sie kommt in ihrer Arbeit zu dem Schluss, dass darüber die Schattenseiten der menschlichen Existenz integriert würden: „die Unfähigkeit der postmodernen westlichen Gesellschaft, ihre Ängste und Schmerzen wahrzunehmen, ebenso wie ihre Sehnsucht danach.“ Der Tod finde in westlichen säkularen Gesellschaften weitgehend hinter geschlossenen Türen statt, verbannt in Krankenhäuser und Altenheime, so erklärt der Forscher Philip Stone die Sehnsucht nach den Erlebnissen des Dark Tourism. Was durch Dark Tourismus passiere, sei quasi ein „sozialer Filter zwischen Leben und Tod“, aufbauend auf dem Wunsch einer quasi „symbolischen Begegnung mit dem Tod“. Die Konfrontation mit den eigenen Albträumen und der Frage, wie man sich selbst im Falle einer Katastrophe verhalten würde, könne ein Motiv sein, bestätigt auch der selbsternannte Dark Tourism-Experte Peter Hohenhaus auf seiner Webseite. Es geht also auch um Grenzerfahrungen. Oder wie es der „Dark Tourist“ David Farrier nach einer Reise ausdrückt: „Jetzt bin ich noch glücklicher am Leben zu sein. Vielleicht ist das der Zweck des Katastrophentourismus“.
Der Tourismussoziologe Wolfgang Aschauer von der Universität Salzburg sieht in dem wachsenden Interesse an Dark Tourismus aber auch ein klassisch touristisches Motiv: Die Suche nach dem Versprechen der Einzigartigkeit eines Ortes in einer globalisierten Welt, in der fast alle touristischen Nischen besetzt und vieles austauschbar geworden sei. Philip Stone und Richard Sharpley stellen zudem fest, dass der Besuch solcher Stätten einen positiven Effekt auf das moralische Empfinden der Besucher habe. Er wirke wie eine Frischzellenkur. Durch die Konfrontation mit dem Tod komme es zu einer Art ‚Aufschäumen‘ des Moralempfindens, zu einer Revitalisierung der Sensibilität.
Schaut man sich die dargestellten Reisebeispiele an, so fällt allerdings auf, dass sich an vielen Dark Tourism-Orten die fiktionalen Realitäten mit den echten Orten des Grauens derart stark vermischen, dass es schwierig wird zu wissen, was echt ist und was nicht, und ob es darum überhaupt geht. Sichtbar werden dadurch wiederum vor allem Leerstellen – die Facetten dieser Orte, der Menschen und deren Geschichten, die fehlen. Besonders drastisch lässt es sich an dem Beispiel der inszenierten Grenzübergänge von Mexiko in die USA darstellen. Völlig offen bleibt dort, ob und welche Auswirkungen tatsächliche Versuche von Menschen, die Grenze von Mexiko in die USA zu überqueren, auf die lokale Bevölkerung und diesen Ort haben.